Die Schweiz ist ein kleines Land. Die Ausdehnung von Norden nach Süden beträgt gerade mal 220 km und von Osten nach Westen 348 km. Und doch lassen sich Reisen innerhalb der Schweizer Grenzen unternehmen, deren Ziel von Zürich aus mit dem Zug fast sechs Stunden entfernt ist. Das alljährliche Wanderwochenende der Trewitax Zürich führte uns dieses Jahr in einen entlegenen Zipfel des Kantons Graubünden: das Puschlav – oder auf Italienisch Val Poschiavo.
Ein erstes Highlight des dreitägigen Ausflugs war die Reise selbst. In Chur stiegen wir in den Bernina Express, der mit seinen Panoramawagons Sicht auf lunare Berglandschaften und spektakuläre Bauten bietet. Die Strecke durch das Albulatal und über den Berninapass gehört seit 2008 zum UNESCO Welterbe. Der 65 Meter hohe Viadukt bei Filisur etwa führt über das Landwassertal direkt in einen Bergtunnel. Die Konstruktion der drei Hauptpfeiler der Eisenbahnbrücke war in den Jahren 1901/02 eine architektonische Meisterleistung. Sie wurde ohne Gerüst mit zwei Kranen erbaut.
Zu dieser touristischen Unternehmung auf der Fahrt mit dem Bernina Express gehört auch der Halt am Bahnhof Alp Grüm, wo man vor dem Palügletscher fürs Erinnerungsfoto posieren kann. Wir tun es den Touristen aus aller Welt gleich. Kaum hat sich der Zug nach diesem Stopp wieder in Bewegung gesetzt, eröffnet sich uns Aussicht auf die ganze Puschlav mit den Bergamasker Alpen und dem Lago di Poschiavo in der Ferne.
Nach einer Schlängelbahnfahrt bergab kommen wir in Poschiavo an und werden vom Direktor des Hotels Croce Bianca persönlich abgeholt und durch die engen Gassen zum ehemaligen Kloster gefahren. Im Vecchio Monastero sind die Zimmer über den Kreuzgang erreichbar. Sie verteilen sich auf zwei Stöcken entlang breiter, heller Korridore. Jede:r von uns bewohnt für zwei Nächte ein kleines, bescheiden eingerichtetes und mit Holz ausgekleidetes Einzelzimmer. Die erste Nacht offenbart für einige allerdings, wie hellhörig die durch einfache Holzwände getrennten Zimmer sind und wie wenig Privatraum die Nonnen in ihren Zellen hatten.
Zuckerbäckerträume
Nach dem Zimmerbezug erwartet uns erst einmal eine Führung durch Poschiavo. Das Tal hat in seiner langen Geschichte als Handelsroute zwischen Nord und Süd gedient. Der Berninapass war schon im 16. Jahrhundert eine der Hauptverkehrsachsen, über die Wein nach Norden verkauft wurde. Aber auch die Schmuggler haben bis in die 1970er über diese Route Zigaretten und Kaffee nach Italien gebracht.
Wir dürfen mit unserer Führerin Patrizia die Geschichte Poschiavos vor allem anhand der Architektur kennenlernen. Wir starten beim belebten Hauptplatz, an dem die Biker ihr Abendbier geniessen und der mit historischen Gebäuden, mit Kirchen und Palazzi gesäumt ist. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die mit Marmorverzierungen als eine gekonnte Fälschung: alles gemalt.
Einen Kontrast zu den vielen reich verzierten Palazzi bildet das älteste Bauernhaus in der Stadt, die Casa Tomé. Ihre Ursprünge reichen bis ins Mittelalter zurück. Sie ist weitgehend in ihrem Ursprungszustand erhalten geblieben, denn über Jahrhunderte gab es weder innen noch aussen grosse Veränderungen.
Am Rand von Poschiavo hatten wiederum die reichen Poschiaver ihre Häuser gebaut. Einer ganzen Strasse entlang reihen sich herrschaftliche Villen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und davor grosszügige Gärten. Unser Praktikant hat für uns einen Vortrag über die Puschlaver Zuckerbäcker vorbereitet, den er gleich vor Ort hält. Vor allem im 19. Jahrhundert mussten viele aus wirtschaftlichen Gründen in alle Herren Länder auswandern. In der Fremde betätigten sie sich oft als Zuckerbäcker. Einige brachten es zu beträchtlichem Wohlstand. Vor allem in Spanien und Portugal wurden legendäre Confiserien und Restaurants von Puschlaver Familien geführt. Sie kamen zurück und bauten sich stolz auf das Erreichte prunkvolle Häuser in Poschiavo. Vom venezianischen Architekten Giovanni Sottovia geplant überraschen die Villen etwa mit ausgeklügeltem System für die Fensterläden, die beim Öffnen in der Aussenmauer verschwinden.
Patrizia spricht übrigens Schweizerdeutsch mit einem Puschlaver Akzent. Das Pus'ciavin ist eine ungewöhnliche Mischung aus Italienisch und Rätoromanisch, es gehört zu den alpinlombardischen Dialekten und weist archaische Züge auf. Da hatten auch die Italienischsprechenden unter uns Mühe, alles zu verstehen. (mehr zum Dialekt auf YouTube)
Die historische Entdeckungsreise durch Poschiavo setzen wir am Abend mit einem kulinarischen Abenteuer fort, bei dem uns immer noch der heimische Dialekt beschäftigt. So ist die Menükarte voller Rätsel, wenn man die Puschlaver Bezeichnungen liest. Was ist Chisciöl oder Pan ciuc con Sciümüdin? Chisciöl ist nicht etwa ein besonderes Öl, sondern ein warmer Käse im Buchweizenmantel. Und das Brot (pan) ist mit Rotwein getränkt und wird mit kräftigem Käse und Berghonig (Sciümüdin) serviert.
In der Hostaria del Borgo gönnen sich einige von uns eine besondere Kaffeekreation, die es zwar in London, in der Schweiz aber nur hier gibt: den Selficcino. Dank Handyfoto und 3D-Drucker lässt sich auf den Milchschaum das eigene Porträt zaubert.
Eine echte Abkühlung im Lagh da Saoseo
Auf Pus'ciavin heisst «unterwegs sein» «a spass’». Und das Unterwegssein auf einer Wanderung ist für uns immer ein Spass. Am zweiten Tag reisen wir mit dem Bus nach Sfazù, von wo wir zu einem der schönsten Bünder Bergseen wandern, dem Lagh da Saoseo. Der sich sanft am Fusse der Berge windende Weg führt nicht allzu steil durch lichte Wälder und über Blumenwiesen, umgeben von einer imposanten Bergkulisse. Nach ein paar kurzen ungewollten Umwegen und etwa drei Stunden öffnet sich vor uns endlich der Blick auf den den glasklaren, grünblauen See, der auf 1985 m.ü.M liegt. Nach der Wanderung ist nicht nur der Hunger gross, sondern auch die Lust, sich im See abzukühlen. Das Eintauchen gleicht jedoch einer Mutprobe, denn die Wassertemperatur erreicht nicht mehr als 10°C. Aber das kühle Blau ist so verführerisch, dass sich viele von uns für ein paar wenige Minuten ins Wasser wagen
Da wir nicht allzu sehr aus der Puste kommen, können wir uns beim Laufen unterhalten und so vor allem auch die beiden neuen Mitarbeiter:innen besser kennenlernen und immer wieder von der wunderschönen Naturkulisse Fotos machen. Am Ende gibt's zur Belohnung einen sauren Most – ein Muss beim Wandern.
Zwischen Sibyllen
Nach der sportlichen Betätigung bildet den krönenden Abschluss unserer Reise das Dinner im Sibyllen-Saal des Hotel Albririci à la Poste. Das Gebäude liegt am Hauptplatz. Es wurde 1682 als Palazzo Massella erbaut und 1848 als erstes Hotel in Valposchiavo eröffnet. Der mit Holz ausgekleidete prunkvolle Saal hat seinen Namen von Serie von Gemälden, auf denen die zwölf Sibyllen abgebildet sind. Sie erscheinen hier nicht nur als die Prophetinnen der christlichen Heilbotschaft, sondern werden mit einer im Hintergrund dargestellten biblischen Szene in Verbindung gebracht. Was sich in diesem Raum für uns ankündigt und ich hier als Prophezeiung wage: Dies ist nicht der letzte lehrreiche, lustige und genussvolle Wanderausflug der Trewitax Zürich gewesen.